ZwischenWelten

Ausstellung im Kunst- und KulturCafé Alt-Marzahn

Siehe auch: https://www.facebook.com/GraphikCollegium

Abbildungen.:
Maja-Helen Feustel, Metamorphose, Kaltnadel, 2015
Ekkehard Bartsch, Alt-Marzahn, Winter, Strichätzung, Aquatinta, 2002
Peter Hoffmann, Rotkehlchen, Zeichnung, aquarelliert, 2023

ZwischenWelten. Das Graphik-Collegium Berlin zu Gast im Kunst- und KulturCafé im KulturGut Alt-Marzahn

Gezeigt werden darunter Originalarbeiten zu den Abbildungen in unserem diesjährigen gleichnamigen Kunstkalender.

Laudatio

Liebe Mitglieder und Freunde des Graphik-Collegiums Berlin, liebe Marzahner Kunstfreunde!

Ich darf eine Schau eröffnen, die denselben Namen trägt, wie der neue Kalender des ausstellenden Vereins, der im benachbarten Lichtenberg sein Domizil hat und im nächsten Jahr zehnjähriges Jubiläum begeht. Zuletzt bekam er auch außerhalb Berlins vieler Münder Lob – durch den 1. GCB-internationalen MiniPrintwettbewerb, den er 2022 via Internet ausgelobt und mit großem Erfolg veranstaltet hatte. Das Graphik-Collegium vernetzte über 300 Druckgraphikerinnen und Druckgraphiker aus aller Welt, deren Werke in einer einzigartigen, spannenden Exposition im Studio bildende Kunst in der John-Sieg-Straße zu sehen waren.

Zeitgenössische Grafik arbeitet in der Fläche und imaginiert im Ergebnis äußere wie innere Räume. Sie handelt von Dingen, Personen oder Situationen, die dem „normalen“ Betrachter meist entgehen, da er oft nicht über dieses besondere, sensible oder radikale Augenmaß und jene innere Ruhe bzw. Unruhe verfügt, das ganze Spektrum von Material, Formen und Farben zu nutzen, um Entdecktes sinnbildlich festzuhalten und darzustellen. Graphiker haben diese Kenntnisse und Fertigkeiten erworben. Sie komprimieren ihre Seherfahrungen mit technischer Finesse beim Auftragen von Lineamenten auf Vorlagen und bringen ihre Vorzeichnungen schwarzweiß oder mehrfarbig unter Druck auf Papiere verschiedener Art.

ZwischenWelten – das klingt nicht spektakulär, zumal dieser Titel in der Öffentlichkeit häufiger vorkommt, wie jüngst auch in Julie Zehs gleichnamigem Roman. Der Begriff steht auch für einen Bereich jenseits des Allgegenwärtigen oder einen Zustand der Schwebe, manchmal auch Leichtigkeit. Hier summiert er gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedenster künstlerischer Botschaften, Gedanken und Bilder.  Auf subjektive Art künden sie geradezu bzw. hintergründig von Veränderungen in unserem tagtäglichen Leben, die es nicht in Nachrichten und Talkshows schaffen. Zum Glück, denn sie sind Speicher von Selbstbewusstsein und kraftvoller Individualität.

23 Künstlerinnen und Künstler des Graphik-Collegiums präsentieren hier im Alt-Marzahner KulturGut in rund 60 Druckgrafiken und einigen Zeichnungen ihre ZwischenWelten – figürlich und abstrakt, in differenziert austarierten Farbklängen wie auch in kontrastvollem Schwarzweiß. Ihre Bilder wirken schweigsam, nachdenklich, surreal fantastisch oder akribisch kühl konstruiert, experimentell forschend. Sie öffnen Einblicke in Räume von Aktionsfeldern, angesiedelt in Bereichen von Natur und Mensch, Alltag und Fest, Architektur, Theater und Wohnen, auch zwischen Gestern und Heute.

Im Café treffen wir auf die Arbeiten von Georg Bothe, Brigitte Lingertat, Christine Niehoff, Susanne Tank, Karolin Hägele, Bärbel Ambrus  und der Seniormitglieder Ekkehard Bartsch und Peter Hoffmann, die 2024 beide 90. Geburtstag begehen. Hoffmanns gezeichnetes „Rotkehlchen“ schmückt die Einladungskarte. Bartschs Collagen erkunden städtische, auch Kunsträume.

Georg Bothe zeigt abstrahierende Farbradierungen auf Tetrapak, einem dem Alltag entstammenden Verpackungsmaterial für Lebensmittel, das auch andere Collegiums-Mitglieder beim Kunstdruck benutzen. In seinen geometrisch aufgebauten Blättern agieren farbige Kreisen mit schwarz schraffierten Flächen; eine schöne, aber nicht ganz ungefährliche Liason, wenn ich den Titel am unteren Rande des Blattes richtig deute: „Carbona not Glue“. Das war doch in den 1970er Jahren ein Song der US-Punkband „The Ramounes“ – frei übersetzt „Reinigungsmittel, kein Kleber“. Was damals als drastischer Kommentar zum rebellischen, selbstzerstörerischen Lebensstil eines Teils der jungen Generation vorwiegend  im Westen galt, bedeutet heute nicht mehr Aufklärung in der Sache, es ist eher ein Hinweis, dass Drogen kein Ausweg beim Bewältigen von Problemen sind. Vielleicht aber ist es auch „nur“ eine Referenz für die Band und deren Musik.

Druckgrafisch aufwendig sind die folgenden Werke: In Strichätzung und Reservage führt Karolin Hägele drei kleine Landschaftsblätter aus:  „Welle“, „Dazwischen“ und „Im Fluss“. Ihr Interesse für verschiedenste Strukturen und Bewegungen veranlasst sie, öffentlichen Raum Stück um Stück abtastend wahrzunehmen. Linear zeichnerische Erstformulierungen erhalten durch spätere Eingriffe fleckenhafte dunkle Schattierungen. Sie lassen die Urform mitunter verschwimmen, aber nicht verschwinden. Brigitte Lingertat ist am Bildnis des Menschen interessiert. In ihrem Aquatinta/Tusche-Blatt zeigt sie die Figur einer liegenden schwangeren Frau, in sich ruhend. Ähnlich wie in „Fokus“, der mit farbigen Kreiden beseelten Kohlezeichnung von Sebastian Haßbecker nebenan am Fenster, wird der menschliche Körper gefeiert, Leben, das Bewahrung und Schutz der Intimsphäre verlangt.

Damit sind wir schon im Saal. Anschließend an Haßbeckers Rückenakt präsentiert die Wand Arbeiten von Maja-Helen Feustel, Kordula Kral, Petra Schneider, Stefan Friedemann, Elisabeth Schneider, Karin Waldmann, Waltraud Niedziella (Feuervogel), Susanne Tank, Karin Tiefensee, Wilfried Habrich und Tiago Cuteilero. Und ihr gegenüber sehen wir von Mariola Müllers Linolschnitt einer Sitzenden bis zu Heidrun Sommers „Die Diskutiererin“ u.a. Werke von Uschi Krempel, Rotraut Kramer.

Feustel und Kral zeigen expressive, ekstatisch sich aufbäumende Figuren – Mensch (Metamorphose, E.A.P.) und Blume (Rothen 1-3). Harte Kontraste schwarzer Konturen und Schraffuren im Weiß kennzeichnen eindringlich Charakterstudien von Aufbäumen/Aufblühen, Widerstehen und Behaupten im nicht näher beschriebenen Umfeld. Ebenfalls mit kalter Nadel, aber in Gestalt äußerer Harmonie geprägt sind die Werke Stefan Friedemanns. Behutsam fängt er in einem seiner drei Blätter die Schwingungen beim Tanzen ein. Dennoch können seine Figuren, ein Paar, den Moment nicht richtig genießen. Das Glück ist flüchtig. Der Blick der Frau weicht dem Gesicht des Mannes aus und richtet sich auf eine vor ihnen hockende traurige dritte Person. Der Künstler kommentiert die Szene so: „…noch Zuflucht/im dämmernden Takt/erinnerungsträger Melodie/der Morgen durch die Spalten des Rollos /beunruhigt, ängstigt/Aufblendlicht alltäglicher Gewissheit.“

Mit kalter Nadel und expressiv von ungebremstem Schwung zeigt Petra Schneider ihr Stück „Im Wald“. Vom Sturm zerzauste Bäume wie fragmentarische Gestalten, die sich aneinander gelehnt letzten Halt vorm Stürzen suchen. So weit will Rotraut Kramer in ihrer Beschreibung eines Alten Rotdorns in der Splanemann-Siedlung in Friedrichsfelde nicht gehen. Tief beeindruckt von dessen metaphorischer und anrührender Kraft punktet sie zarte Liniengeflechte. Mit dem Thema Werden und Vergehen zielt sie im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut des Baumes.

Auch Karin Tiefensee verfolgt den Übergang von Alt zu Neu: Sie drückt die drei Farben schwarz, blau und weiß tief in die Fläche, um „Neues Ordnen“ darzustellen. Im Rhythmus ihrer Vertikal- und Horizontallinien, die das Prozesshafte der Entwicklung und Suche nach neuer Gewissheit schildern, ist viel Dynamik und leuchtende Farbe. Wilfred Habrich hingegen interessiert anderes: Er ist davon überzeugt, dass wir alle beobachtet werden. Das macht er uns klar im „Endoplasmatischen Retikulum“, einem verzweigten Kanalsystem flächiger Hohlräume, das von einem imaginären Auge überstrahlt wird. Je länger man sich einsieht, desto mehr seltsame Dinge entdeckt man in seiner collagierten Radierung, die die Fantasie des Betrachters auflädt.

Zurück zum Titel der Ausstellung: Uschi Krempel deutet ihn abstrakt in geometrisch komponierten subtilen Farbradierungen. Pastellfarbene Elemente waagerechter und senkrechter Linienzüge, Farbbalken, Halbkreis und diagonal ausgerichteter Pfeil zeigen die Vielfalt scheinbar unbewohnter Räume. Es ist nach eigenem Bekunden Auseinandersetzung mit Unfertigem, Offenen und doch auch Suche nach Spuren, hinter denen Geschichten und Bilder stecken können.

Obwohl es mir schwerfällt, angesichts dieser Fülle der Angebote einen Favoriten zu nennen, möchte ich den Blick noch darauf  lenken: Auf intensive, auch raffinierte Weise adelt Tiago Cutileiro in seinem Druckwerk „Arvores 1-4“ Bäume: Wir begegnen ihnen nicht nur in der Doppelung ihres feingliedrigen Geästs – von unten wie von oben gesehen, sondern auch von links nach rechts zu vier verschiedenen Zeiten erlebte Helle und Dunkelheiten. Und wer ganz nahe schaut, erkennt, dass der Druck auf Tetrapak segmentiert im jeweiligen Mini-Quadrat erfolgte, bevor die Einzelelemente zusammengefügt und finaler Bearbeitung unterzogen worden sind. Erstaunlich, wie viel Licht und Luft diese Arbeit, aber auch die anderen Werke der Ausstellung atmen!

Der unvergessene Volkhard Böhm hat zu Recht vor einigen Jahren das Landschafts- als wichtigstes und immer wiederkehrendes Bildmotiv der Künstlervereinigung Graphik-Collegium bezeichnet. Wenn es dafür eines weiteren Beweises bedürfte, so nenne ich gern Ekkehard Bartschs Kaltnadeldruck vom Winter in Alt-Marzahn mit dem Blick auf den Anger und seine Kirche.

Astrid Volpert