Künstlerische Zeitspuren
100 Jahre Lichtenberg in Großberlin
Das Graphik-Collegium Berlin e.V. zum Jubiläum
Sternstunden der Menschheit nannte Stefan Zweig eine Sammlung von Erzählungen über historische Begebenheiten, deren Auswirkungen die Geschichte der Menschheit verändert haben. Solch eine Sternstunde war der 1. Oktober 1920. Quasi über Nacht wurde Berlin durch den Zusammenschluss von acht Stadt-, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken zur Weltmetropole. Auch Lichtenberg wurde ein Teil dieser Metropole Groß-Berlin. „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum … zusammengedrängt ist, sind selten … im Laufe der Geschichte. … Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“
Wenn man berücksichtigt, wie schwierig das Zusammengehen von verschiedenen Organisationen, Ländern oder auch Staaten und den dort organisierten bzw. lebenden Menschen mit ihren Befindlichkeiten, Eitelkeiten, Egomanien hin zu einer Fusion sein kann, kann dieses Ereignis 1920 nicht hoch genug bewertet werden.
Der heutige Bezirk Lichtenberg, zu dem noch im Süden die Ortsteile Karlshorst, Friedrichsfelde und Rummelsburg und im Norden Fennpfuhl, Alt- und Neu-Hohenschönhausen, Malchow, Wartenberg und Falkenberg gehören, schlängelt sich so anschließend an Treptow-Köpenick im Süden, im Osten entlang von Marzahn-Hellersdorf und im Westen entlang von Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow bis ins Brandenburger Umland im Norden.
Zwar galt Lichtenberg 1920 schon als am weitesten urbanisierte Gemeinde im Berliner Osten, mit der Eingemeindung aber kam es nach der Gründerzeit zu einem weiteren Aufschwung der sich ansiedelnden Industrie, wie dem Kraftwerk Klingenberg, Krankenhäuser, neben dem Oskar-Ziethen-, das Griesinger- oder das Lindenhof-Krankenhaus, wurden erbaut, neue Siedlungen entstanden, die verkehrsmäßige Infrastruktur erheblich ausgebaut. Architektonisch gesehen war es ein bunter Bezirk. Neben Bauten aus den Anfangsjahren Lichtenbergs, wie der gotischen Dorfkirche auf dem Loeperplatz, den Hinterhofbauten der Gründerzeit und den historisierenden Kirchenbauten, gab es und entstanden Bauten in den Stilen des Historismus, imposante Villen, wie in dem das Dahlem des Ostens genannten Karlshorst, Schlösser, einfache Siedlungen, dörfliche Gegenden und Laubenkolonien. Dazu kamen Parks, Grünflächen und 1955 der größte Landschaftstiergarten Europas, der Tierpark Friedrichsfelde.
Und Plattenbauten entstanden auch schon damals. Zwischen 1926 und 1930 entstand die erste deutsche Plattenbausiedlung nach Plänen von Martin Wagner (1885-1957), die heutige Splanemann-Siedlung in der Nähe des Tierparks. Sie verkörpert viel von den Ideen der frühen Entwickler des industriellen Bauens, wie Konrad Wachsmann (deutsch-jüdischer Architekt, 1901-1980), die sich dadurch abwechslungsreiches Bauen mit vielen individuellen Lösungen vorstellten.
Später, ab den 1970er Jahren, kamen die meist schlichten, aneinandergereihten Plattenbauten dazu mit ihren Massenwohnungen.
Bis Mitte dieser 1970er Jahre wohnte ich in einem dieser Plattenbauten, einem der Ersten in dieser Gegend. Aus unserem Fenster konnten wir das Heranwachsen eines der größten Neubaugebiete jener Zeit beobachten, dem FAS genannten Frankfurter Allee Süd. Weitere folgten am Fennpfuhl, am Tierpark oder in Hohenschönhausen.
Daneben entstanden auch funktionale, aber wenig innovative Kaufhaus- und Bürogebäude und ganz neue Kirchenbauten, wie das schlichte Gemeindezentrum am Fennpfuhl oder die neue imposante Kirche in Wartenberg.
„Das Stadtschicksal Berlins besteht darin, „… immerfort zu werden und niemals zu sein“ – stellt der Kunsthistoriker Karl Scheffler (1869-1951) schon 1910 fest. Und das gilt natürlich auch für Lichtenberg.
Neben den einzelnen dörflichen Bauten erzählen heute nur noch die Pommerschen Landschafe und einige Ziegen, die die Wiesenflächen im Landschaftspark Herzberge und im Biesenhorster Sand an der Grenze zu Marzahn-Hellersdorf begrasen, vom dörflichen Ursprung Lichtenbergs und einiger seiner Teile.
Kulturell gesehen tat sich in Lichtenberg lange Zeit wenig. Zwar gab es vor dem Krieg zum Beispiel Königs Festsäle in Karlshorst mit Ballsaal und Kino, das spätere Kulturhaus mit Veranstaltungen – legendär hier die Jazzkonzerte – und Galerie, nach dem Krieg dann ebenfalls ein Kino, das Theater Karlshorst oder das Theater an der Parkaue, bis heute eines der größten Staatstheater für junges Publikum in Deutschland. In einem Teil dieses Hauses befand sich in der Zeit der DDR das Haus der Pioniere, in dem Kindern und Jugendlichen Kultur und Kunst vermittelt wurde.
Eine Reihe von kommunalen Galerien kam aber erst ab Mitte der 1970er Jahre dazu. Zwar lebten von 1873 bis 1892 Heinrich Zille hier und zeichnete sein Milljöh, Ludwig Mies van der Rohe wirkte hier und entwarf das Haus Lemke am Obersee, Arno Mohr, ein weiteres Berliner Künstler-Original, hatte von 1949 bis 1964 in der Hohenschönhausener Straße seine Druckwerkstatt oder der Maler und Graphiker Harald Hackenbeck mit Wohnort Lichtenberg, im Vergleich zu anderen Bezirken lebten in Lichtenberg lange Zeit vergleichsweise wenige bildende Künstler. Später wurden es noch weniger. Als ich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre etwa den Maler und Graphiker Horst Zickelbein in Kaulsdorf aufsuchte, zeigte er auf die Hochhäuser am Horizont mit den Worten: „Marzahn wächst auf uns zu.“ Wenig später wurde aus dem Lichtenberger ein Marzahner Künstler, wie auch die anderen, die in diesen Randgemeinden lebten und arbeiteten. Biesdorf, Mahlsdorf, Kaulsdorf, Marzahn und Hellersdorf wurden 1979 dem neu entstehenden Bezirk Marzahn-Hellersdorf zugeordnet.
Die seit diesem 1. Oktober 1920 ebenfalls zu Lichtenberg gehörenden Kolonie Friedrichsberg und Landgemeinde Boxhagen-Rummelsburg waren schon mit der Bezirksgrenzenänderung von 1938 an den heutigen Bezirk Berlin-Friedrichshain gefallen.
Nach 1990 ziehen viele Menschen und auch Künstler aus der Innenstadt, auch aus Lichtenberg, in den Speckgürtel Berlins mit seinen neu entstehenden Eigenheimsiedlungen oder in die Künstlerquartiere von Prenzlauer Berg oder Pankow. Erst wesentlich nach der Jahrtausendwende zieht es Künstler wieder nach Lichtenberg. Inzwischen gibt es wohl in keinem anderen Berliner Bezirk so viele kommunale und Vereins-Galerien wie in Lichtenberg.
In einer dieser Galerien, dem Studio Bildende Kunst in einer alten Art-Deco-Villa, einst die älteste kommunale Galerie, nun seit Jahren vom Verein Kulturring getragen, wirken und arbeiten die Künstlerinnen und Künstler des Graphik-Collegiums, manche schon seit Jahrzehnten. Viele von ihnen wohnen im Bezirk, für die anderen ist er durch dieses Haus mit seiner Galerie und vor allem seiner Druckwerkstatt zur kreativ-künstlerischen Wahlheimat geworden. Gerade bildende Künstler waren und sind es, die immer wieder diese Stadt Berlin in ihrer wechselvollen Entwicklung und Vielschichtigkeit, mit dem Konglomerat von Stilen und Auffassungen, wie auch ihr ständiges Werden in ihren Bildern festhielten. Das Stadtbild hat in Berlin eine besondere Tradition. In diese Tradition stellen sich die Künstler des Graphik-Collegiums mit ihren Stadtansichten.
Anlässlich dieses 100-jährigen Jubiläums haben 31 der organisierten Künstler vorhandene Bilder, Zeichnungen, Collagen, Graphiken und auch Plastiken aus den Ateliers und Werkstätten geholt und sich für neue Bilder auf den Weg gemacht durch Lichtenberg, aber auch durch die einstmals dazugehörenden Orte.
Der Verein und seine Künstler haben sich vorrangig der künstlerischen Druckgraphik und hier wiederum den Techniken des Tiefdrucks, seiner Pflege und Verbreitung verschrieben, einer Technik, deren Reiz der Künstler Max Pechstein (1881-1955) einst so beschrieb: „… jede neue Aufnahme der Griffelkunst belohnt mich mit frischen Problemen. Darum liebe ich und treibe ich Graphik, … den energischen Riss der Nadel auf dem Metall … Reizvoll und immer neu kann man beim Radieren die handwerklichen Griffe gestalten. Mit der Feile silberne Töne hervorlocken, mit dem Pinsel die Ätzsäure verlaufen lassen und knirschend im Metall die starke Nadel dem Wollen unterordnen … und selbst drucken. Überhaupt selbst drucken muss man! Die Druckfarbe geschmeidiger oder zäher, das Papier trockener oder feuchter verwendet, gibt neue Reize und Anregungen. Welche Freude, wenn man ein neues Handwerkszeug selbst gefunden und bei der Arbeit als bewährt erkennt. Es ist die Arbeit an sich, welche den Arbeitenden belohnt. Viel schneller und unmittelbarer als beim Malen hat man die Wirkung, und man ist an die Arbeit gefesselt, bis das Blatt fertig gedruckt vor einem liegt.
… Vorhergegangene Skizzen, Zeichnungen klären das Wollen, und im Kopfe fertig, vollendet das jeweils erforderliche Handwerkszeug den Gedanken.“ Oben im Haus, dieser alten Villa wird gezeichnet, unten im Keller radieren, ätzen sie die Druckplatten und drucken sie ihre Graphiken auf der alten Druckpresse, die Künstler des Graphik-Collegiums, wie es schon Künstler seit Jahrhunderten tun. Maja Helen Feustel öffnet in einer ihrer Zeichnungen ein wenig die Tür zu diesem schöpferischen Wirken.
Der Geschichte und der Gegenwart, der Architektur und der Natur, dem Leben in der Stadt und der gesamten Atmosphäre spüren sie mit künstlerischen Mitteln nach und das alles halten sie in den Bildern fest. Es sind meist stille, verhaltene und auch melancholische Bilder, poetisch, von Geschichte erzählend bei Manfred Haase, Ekkehard Bartsch, Elsbeth Schneider, Roswitha Albrecht oder Birgit Horota-Müller, atmosphärisch bei Karin Tiefensee oder Inge Gräber. Dabei kann man die ästhetisch vielschichtige „Dicke Luft“ bei Karin Tiefensee durchaus mehrdeutig verstehen, da stark abstrahierte, gegenstandslose Bilder einen viel stärkeren Interpretationsspielraum bieten. Nach vielmaligem Betrachten eröffnet sich mir in diesem Bild die Entstehung von etwas Neuem, Hellem, explosionsartig oder eruptiv allerdings in vielen Facetten und es ist dann wie ein Sinnbild für diesen 1. Oktober 1920. Kordula Kral hat in ihrer sich aus einem Liniengeflecht viel schwereloser erhebenden „Erlöserkirche“, als es der tatsächliche neugotische Bau tut, ein Denkmal gesetzt in seiner irdischen „Erlöstheit“.
Still poetisch zeigen Carola Malter, Hilmar Grey, Rotraut Kramer und Maja-Helen Feustel Natur pur oder die Verschmelzung von Natur und der Menschen mit Architektur.
Phantastisch auf unterschiedliche Weise wird es bei Wilfried Habrich oder bei Florian Wolf in dessen Collagen. Wilfried Habrich träumt einem Stück Lichtenberger Industriegeschichte nach, den Luftschiffen, die sich einst in Karlshorst in die Luft erhoben. Was wäre, wenn man sich über das Menschengewimmel der Großstadt einfach erheben könnte? Lichtenberger Industriegeschichte ganz anders erlebbar, macht Anke Bell in ihrer bizarr konstruktiven vielschichtigen Radierung zum Kraftwerk Klingenberg.
Einen Blick über den Stadtbezirk, seine Häuser, Dächer, Fassaden und Straßenschluchten, bieten detailreich-realistisch Peter Hoffmann und reduziert-abstrahiert Karolin Hägele. Die nüchternen Fassaden der Blockbauten und der neuen Architektur haben erstaunlich viele der Künstler angeregt: Sebastian Hassbecker mit einer betont malerischen Sicht, Uschi Krempel mit einem dichten Stakkato vertikaler Häuserfluchten, Susanne Tank mit so anderen Gestaltungen, die es auch gibt, Tiago Cutileiro, mit der beängstigenden Leere, die diese Gebäude auch ausstrahlen können, und Georg Bothe mit den feinen Strukturen der unterschiedlichen Betonfassaden oder Martha Pflug-Grunenberg zu einem malerischen Raster. Die Schlichtheit der Fassaden wird hier immer wieder unterbrochen von Fenstern oder Fensterreihen. Diese lyrischen Bilder mit einem beeindruckenden graphischen Reiz werden mit dem Fenster als Symbol für die Öffnung, den Blick hinaus zur Metapher für eine übergreifende Öffnung. Es ist faszinierend, welche ästhetischen Reize diese Künstler auf unterschiedliche Weise den eigentlich meist kahlen Fassaden abgewinnen. Die starre Geometrie aufbrechende Fassadenornamente hat Michaela Nasoetion gefunden.
Das alltägliche Leben der Menschen stellen Heidrun Sommer und Mathias Winde in genrehaften Szenerien dar. Solitäre sind die Werke von Brigitte Lingertat mit ihren Porträts von Tieren aus dem Tierpark, die sie monumental ins Bild setzt, von Alexandra Frenz mit ihrem minimalistischen Hinweis auf eine der „wichtigsten“ industriellen Entwicklungen in diesem Berliner Bezirk, dem Eierschneider und der anrührende Porträtkopf einer Trümmerfrau von Waltraud Niedziella.
1956 kam die von den Nazis aus Deutschland und ihrem Berlin vertriebene jüdisch-deutsche Lyrikerin Mascha Kaléko das erste Mal wieder in diese Stadt. Auf eine entsprechende Frage antwortete sie: „Und alles fragt, wie ich Berlin denn finde? / Wie ich es finde? Ach, ich such es noch!“ Die Künstler des Vereins haben sich in Berlin-Lichtenberg mit künstlerischem Blick auf die Suche gemacht nach Vergangenheit und Gegenwart, nach vergangener Zeit und nach Impressionen aus der Gegenwart. Sie haben vieles gefunden, anderes neu entdeckt und präsentieren dieses in druckgraphisch, aber auch malerisch und plastisch überzeugenden und anregenden, sehr individuellen Bildern.
Vieles gäbe es noch zu erzählen und zu entdecken über und in diesem Stadtbezirk Lichtenberg. Nur wer sich mit offenen Augen auf den Weg macht, wird Weiteres in seiner ganzen Vielfalt und auch in seinem Reiz entdecken. Es sind zu allen Zeiten Künstler gewesen, die uns die Augen und Sinne geöffnet haben, Künstler wie die des Graphik-Collegiums Berlin.
Volkhard Böhm
Ein Lob der Druckgraphik – Das Graphik-Collegium Berlin e.V.
Was war das wieder für ein Rummel in diesem Jahr 2017 anlässlich 500 Jahre Reformation. Mehr oder weniger wurde dabei auch der Entdeckung des Buchdrucks wenige Jahre vor Luthers Thesenanschlag und der Blüte der Druckgraphik in dieser Zeit gedacht. Ohne beide Ereignisse hätten sich das reformatorische und auch das humanistische Gedankengut nicht so schnell verbreiten können. Denn es war die Zeit eines Schongauer, eines Cranach, eines Dürer, der zum Nürnberger Humanistenzirkel gehörte und dessen Kunst sogar die großen italienischen Renaissancekünstler faszinierte, und Anderer, die damals auch eine „Revolution“ der Kunst entfachten. Nicht umsonst nennt man diese Zeit nach ihrem Bedeutendsten „Dürerzeit“.
Es war eine Hochzeit der Druckgraphik und ihr Ruf als demokratischste Kunst wurde begründet. Immer wieder haben gerade auch die Künstler der Druckgraphik in gesellschaftliche Debatten eingegriffen oder diese angestoßen, gesellschaftliche und politische Missstände benannt. Man denke an Goya, Daumier, die Kollwitz, Staeck oder Butzmann.
Die Kunst der Graphik, in der meist die Linie das Bestimmende ist, ist anders als die der Malerei: stiller, subtiler, meist kleiner im Format. Wie Dürer haben Bildkünstler aller Zeiten sich der Kunst auf Papier verschrieben, sie zur Meisterschaft getrieben und unvergessliche Werke hervorgebracht.
Von Rembrandts Radierungen war der italienische Barockmaler Guercino so begeistert, dass er 1660 an Don Antonio Ruffo, einen sizilianischen Aristokraten und Kunstliebhaber, schreibt: „Ich habe verschiedene seiner Druckgraphiken gesehen, die zu uns gelangt sind; sie sind sehr schön ausgeführt, mit großem Feingefühl und Sachverstand gestochen …“ Rembrandts Graphiken haben Künstler wie van Gogh oder Picasso und Kunstliebhaber über die Jahrhunderte begeistert. Bis heute haben sie nichts von ihrer Faszination verloren. Er hat nicht nur virtuos auf der Klaviatur der Radierung gespielt, er hat auch das Malerische in die Graphik eingeführt und war damit der erste Peinture Graveur. Und seine Graphik hat ihn zuerst überregional bekannt gemacht, nicht seine Malerei.
Ja, man kann sich schon berauschen an der Sprache der einzelnen Möglichkeiten der vier klassischen Drucktechniken, deren Schönheit, aber auch an der Bescheidenheit und der Sparsamkeit ihrer Mittel.
„… fast möchte ich Dich zum Holzschneiden verführen, es ist eine Technik, die zum Bekenntnis herausfordert, zum unmissverständlichen Darlegen dessen, was man letztlich wirklich meint. Es, oder vielmehr sie, erzwingt eine gewisse Allgemeingültigkeit des Ausdrucks und weist die unwichtigen Wirkungen bequemer und der Gefälligkeit dienender Verfahren zurück“ – schreibt Ernst Barlach in einem Brief[1]. Klar und entschieden, kurz und knapp in der Form aber auch eindrucksvoll in der zarten Maserung der Holzstruktur können sie sein, die Blätter der Holzschneider. Zart strukturiert sind die bezeichneten Flächen der Lithographie durch die Körnigkeit des Steins, während sie im Siebdruck meist klar konturiert bleiben.
Im Tiefdruck ist die gestochene Linie des Kupferstichs, ob gleichmäßig oder an- und abschwellend, prägnant und nüchtern. Die Linie mit der kalten Nadel wird in der Kaltnadelradierung dagegen samtig und weich. Die geätzte Linie steht zwischen beiden und die diffizilen Stufen der Aquatinta bringen eine Art Farbigkeit ins Bild ohne jede Farbe.
So hat jede druckgraphische Technik ihre eigene, unverwechselbare Sprache.
Die Künstler des Graphik-Collegiums widmen sich zum Teil seit vielen Jahren dieser Kunstform in den Kursen und Workshops des Studio Bildende Kunst in Berlin-Lichtenberg. Viele von ihnen erlernten in der Druckwerkstatt im Keller dieser Art-Deco-Villa die Grundlagen der Technik. Professionelle Künstler kamen hinzu, die dort ihre Werke druckten. 2015 formierte sich ein Großteil von ihnen zu einem gemeinnützigen eingetragenen Verein. Mitglieder kamen auch aus den Zeichenkursen des Hauses, die teilweise auch in der Druckwerkstatt wirkten. In diesem Zusammenspiel von Zeichnung und Graphik liegt eine tiefe Logik, denn beide lassen sich nicht trennen. Die Zeichnung ist die individuellste, intimste und spontanste Kunstäußerung der bildenden Künstler. Und sie geht meist allen anderen Kunstäußerungen voraus. Unterschiede ergeben sich nur aus dem Material. Die Linie durch Bleistift und Kreide ist weicher als durch die Radiernadel. Und selbst dieser Unterschied scheint minimal, da deren Linien durch tiefes Ätzen und kräftigen Farbauftrag fast immer einen tonigen Charakter haben können.
In den Kupferstichkabinetten der großen Museen sind die Sammlungen der Zeichnungen und Druckgraphik vereint. Und Graphik kommt aus dem Griechischen graphikḗ und heißt Schreiben oder Zeichnen.
Zweck des Vereins ist die Förderung von Kunst und Kultur. Er widmet sich insbesondere der zeitgenössischen künstlerischen Druckgraphik – so steht es in der Satzung des Graphik-Collegiums.
Zwar äußern sich viele Mitglieder dieses Vereins auch in anderen bildkünstlerischen Techniken, aber entsprechend der Möglichkeiten im Studio Bildende Kunst mit seiner Tiefdruckwerkstatt widmen sie sich hier ausschließlich den Tiefdrucktechniken.
Die Radierung, als das wichtigste Tiefdruckverfahren, wurde oft leicht schwärmerisch als die Königin unter den druckgraphischen Techniken oder als aristokratische druckgraphische Technik bezeichnet.
Herbert Tucholski, einer der Hauptmeister der Berliner Druckgraphik, schreibt in seiner leider nicht veröffentlichten „Technik der Radierung“: „Die Radierung, ein Tiefdruckverfahren, übertrifft an Vielfalt der Ausdrucksmittel alle grafischen Techniken.“ – oder an anderer Stelle: „Die Technik der Radierung ist bis heute nicht veraltet; sie bietet unendliche Variations- und Kombinationsmöglichkeiten, ganz abgesehen von dem ständigen Zuwachs an neuem Material, das zu erfinderischen Experimenten anregt.“ In der Tat hat der Tiefdruck, als das zweitälteste druckgraphische Verfahren die weiteste und kontinuierlichste Verbreitung gefunden.
„Der Graveur (Kupferstecher/Graphiker) setzt eine Welt in Bewegung, erweckt Kräfte, die die Formen aufblähen, fordert Kräfte heraus, die in einem flächigen Universum schlummern. Herausfordern, dies ist seine Art zu schaffen.“[2] – schreibt der französische Philosoph Gaston Bachelard. Und er fährt fort: „… jeder Stich zeugt von einer Kraft. Jeder Stich ist eine Träumerei des Willens, bezeugt die Unschuld des konstruktiven Wollens.“[3]
Die einfachste Form aller Tiefdrucktechniken ist die Kaltnadelradierung, von vielen der Künstler des Graphik-Collegiums verwendet. Sie ist direkt und fordert den kräftigen, zupackenden Griff. Hart muss die Nadel durch das Metall reißen. Linien und Linienstücke formen die Bildmotive, Schraffuren schaffen Flächen, die manchmal wie selbständig wirkende Partien neben den Formen und Figuren stehen, ästhetische Pendants sind. Andere Tiefdrucktechniken fordern dagegen eher die ruhige und bedächtige Hand.
Das wohl häufigste Bildmotiv der Künstler und Künstlerinnen des Graphik-Collegiums ist die Landschaftsdarstellung. Sie symbolisiert Sehnsucht, Geborgenheit, jahreszeitliche Abläufe, damit aber auch die Darstellung von Werden und Vergehen. So ist es auch mit diesen Bildern der Künstler des Graphik-Collegiums, gefunden auf Reisen in die Umgebung Berlins, immer wieder an der Ostsee oder in den Urlauben in ferneren Gegenden. Ernst Barlach schreibt über diese Motive: „Die Natur hat Feierlichkeit und Behagen, Groteskes und Humor oft in einem Objekt und in einer Linie.“[4]
All diesen Graphiken ist gemeinsam: Es sind realistische Darstellungen, die von der fast nüchternen Schilderung bis in die romantisch-hintergründige Stimmung reichen, episch bis lyrisch.
Ähnliches finden wir in den Darstellungen von Stadtlandschaften, wie in den meist dunklen, den morbiden Charme des alten Berlins atmenden Straßenschluchten und Raumeinblicken. Und Gleiches gilt auch für die Aktdarstellungen. Sie spielen im Schaffen des Teils der Künstlerinnen und Künstler des Graphik-Collegiums eine wichtige Rolle, die insbesondere auch den Aktzeichenkurs im Studio Bildende Kunst besuchen. Die Aktdarstellung ist dadurch bei vielen nicht nur Klärung der bildschöpferischen Gestaltung und von Proportionszusammenhängen, von der Wirkung von Licht und Schatten, sondern wird mehr eigenständiges Motiv für die Darstellung menschlicher Schönheit, von menschlichen „Haltungen“ und „Charakteren“.
Wie ein Gegenentwurf dazu wirken die stark abstrahierten, oft bis zur Gegenstandslosigkeit getriebenen Bilder, ob nun sparsam im Gegeneinander oder im Zusammenwirken von Linie, Fläche und Farbe, ob als druckgraphisches Feuerwerk inszeniert, dramatisch hintergründig zugespitzt oder konstruktiv aufgefasst. Es sind diese Bilder, die die Phantasie des Betrachters in besonderer Weise fordern und anregen.
Alle Künstlerinnen und Künstler zusammen aber, also das gesamte Graphik-Collegium, sind wie ein vielstimmiges, durchaus harmonisch musizierendes Orchester mit einem beeindruckend breiten Repertoire.
Spielte die Druckgraphik im Osten Deutschlands im Konzert der Künste noch eine wichtige Rolle, ist es in den letzten Jahrzehnten im vereinigten Deutschland still geworden um sie. In den großen Kunstausstellungen zur Gegenwartskunst ist sie kaum bis gar nicht vertreten. Umso wichtiger ist das Wirken solcher Vereine, wie dem Graphik-Collegium und seiner Künstlerinnen und Künstler.
Denn die Faszination der Druckgraphik ist zeitlos. Etwas Altehrwürdiges schwingt mit in den graphischen Blättern, allein schon durch die Wahl der Papiere vom Bütten mit Wasserzeichen und „gerissenem“ Rand bis zum strukturierten, durchscheinenden Japanpapier. Und immer wird noch mit der gleichen Technik mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet und gedruckt, wie vor Hunderten von Jahren.
Diese Papierstücke, Druckgraphik und Zeichnung, sprechen nicht nur über Linie, Fläche und Form, ihre technische Ausführung und ihre Darstellung, ob nun figürlich oder gegenstandslos, sie erzählen auch von den Künstlern, die sie schufen, meines Erachtens direkter, individueller als in den anderen Genres der bildenden Kunst.
Schauen wir uns so auch die Werke der Künstlerinnen und Künstler des Graphik-Collegiums an, dann „werden wir uns der ursprünglichen von der Hand angegriffenen Materie bewusst,“ – wie es der französische Dichter Paul Eluard einst über die Kunst des Graphikers Albert Flocons schrieb – „dann erleben wir erneut die List der Säure dem Kupfer gegenüber, die davon so unterschiedlichen Finten der Kerben im Holz, die umsichtige Annäherung an die körnige Oberfläche des Steins, kurz wir erleben die heroischen Zeiten des Graveurs (Kupferstechers/Graphiker) wieder.“[5]
[1] Ernst Barlach, Die Briefe I, 1888-1924, Hrsg. von F. Droß, München 1968, S.430
[2] Gaston Bachelard, Paysages, Notes d’un Philosophe pour un Graveur Albert Flocon, Einführung in eine Dynamik der Landschaft, In Bollmann Bibliothek, Band 4, Die Bücher des Albert Flocon, Düsseldorf und Bensheim, 1991, S. 48
[3] Gaston Bachelard, ebenda S. 49
[4] Ernst Barlach, Die Briefe I, 1888-1924, Hrsg. von F. Droß, München 1968, S.253
[5] Paul Eluard, Perspectives, Albert Flocon, 2. Kapitel, Zum Ruhme der Hand „á la gloire de la main“, In Bollmann Bibliothek, Band 4, Die Bücher des Albert Flocon, Düsseldorf und Bensheim, 1991, S. 37/38
Eröffnung: Unter Druck – Neue Radierungen des Graphik-Collegiums Berlin-Lichtenberg
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, vor allem aber liebe Mitglieder des Graphik-Collegiums Berlin-Lichtenberg!
Er war begeistert von seinen Radierungen. „Ich habe verschiedene seiner Druckgraphiken gesehen, die zu uns gelangt sind; sie sind sehr schön ausgeführt, mit großem Feingefühl und Sachverstand gestochen …“ so schreibt der italienische Barockmaler Guercino über Rembrandts Radierungen 1660 an Don Antonio Ruffo, einen sizilianischen Aristokraten und Kunstliebhaber.
Ja, man kann sich schon berauschen an der Sprache der einzelnen Möglichkeiten der vier klassischen Drucktechniken, an deren Schönheit, aber auch an deren Bescheidenheit die in der Sparsamkeit ihrer Mittel, beim Einsatz dieser Möglichkeiten liegt.
Im Tiefdruck ist die gestochene Linie des Kupferstichs, ob gleichmäßig oder an- und abschwellend, prägnant und nüchtern, die Linie mit der kalten Nadel wird samtig und weich, die geätzte Linie steht zwischen beiden und die diffizilen Stufen der Aquatinta bringen eine Art Farbigkeit ins Bild ohne jede Farbe.
Etwas Altehrwürdiges schwingt mit in den graphischen Blättern, allein schon durch die Wahl der Papiere vom Bütten mit Wasserzeichen und „gerissenem“ Rand bis zum strukturierten, durchscheinenden Japanpapier. Und immer wird noch mit der gleichen Technik mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet und gedruckt, wie vor Hunderten von Jahren.
Ich habe sie erst spät entdeckt, diese Faszination der bedruckten Blätter. Aber dann sind sie mir wichtig geworden diese Papierstücke, sprechen sie doch nicht nur über Linie, Fläche und Form, ihre technische Ausführung und ihre Darstellung, ob nun figürlich oder gegenstandslos zu mir, sie erzählen auch von den Künstlern, die sie schufen. Viele dieser Blätter sind mir Wegbegleiter und gute Freunde geworden. Nur, ich bin nur Betrachter, ihr aber seit auch Schöpfer, also Künstler.
Im September 2004 habe ich nach über 20 Jahren die letzte Ausstellung in diesem Haus betreut. Aber auch danach war ich weiter mit dem Haus verbunden, was nicht wenig mit Euch, den heutigen Mitgliedern des Graphik-Collegiums, zu tun hat. Als ich dann 2010 aus dem „aktiven Dienst“ ausschied, wollte ich mich zwar weiter mit Ausstellungen da oder dort beschäftigen, aber ich wollte keine Ausstellungseröffnungen mehr „reden“, aus verschiedenen Gründen. Ganz habe ich das nicht geschafft, man läßt sich dann doch manchmal aus alter Verbundenheit „bequatschen“. Solch eine langjährige Verbundenheit gab auch den Ausschlag für die Zusage zur heutigen Eröffnung. Es war die Verbundenheit mit Stefan Friedemann, der anfragte, kenne ich ihn doch seit 1989, als ich seine erste Ausstellung hier im Haus betreute. Er ist damit das Graphik-Collegium-Mitglied, das ich am längsten kenne, aber andere fast genau solange.
Aus diesen Gründen möchte ich keinen Fachvortrag ausschließlich über Kunst und Künstler des Graphik-Collegiums halten, sondern mehr über unsere besondere Beziehung sprechen.
Als 2003 der Bezirk Lichtenberg den Beschluß faßte, das Studio Bildende Kunst als kommunale Kultureinrichtung abzugeben oder zu schließen, galt meine größte Sorge nicht so sehr der eventuell wegfallenden Ausstellungseinrichtung, sondern viel mehr dem Wegfallen der hier beheimateten Kurse, insbesondere des damaligen Seniorenkurses, mit ihrer „sozialen und kulturellen Heimat“, einen Treff- und Schaffenspunkt in diesem Haus. Diese Kurse und dieses Haus gehörten für mich einfach zusammen und die Mitglieder waren allesamt so etwas wie gute Freunde geworden. Dabei kann man diesen Seniorenkurs heute wohl als die Keimzelle des späteren Graphik-Collegiums bezeichnen. Teilnehmer aus den anderen Kursen von Stefan Friedemann, dem Tiefdruck- und dem Zeichenkurs, kamen hinzu.
Mit der Wende begann im Osten Berlins eine Umstrukturierung des bis dahin sogenannten bildnerischen Laienschaffens nach westlichem Vorbild. Aus den meist kontinuierlich arbeitenden Zirkeln sollten Kurse mit Beginn- und Endtermin geformt werden, was die soziale Struktur in diesen ehemaligen Zirkeln nachhaltig zerstört hätte.
In einer Art Gegenbewegung holte 1993 oder Anfang 1994 der damalige Studioleiter, so erzählte es mir Alf Walter Bückert jetzt noch einmal, „versprengte Kursteilnehmer“ von beendeten Kursen aus der Umgebung in das Studio Bildende Kunst. Der Seniorenkurs unter der Leitung von Stefan Friedemann begann seine Arbeit. Entsprechend den Möglichkeiten im Studio Bildende Kunst mit seiner Tiefdruckwerkstatt widmete er sich ausschließlich den Tiefdrucktechniken.
In diesen 1990er Jahren bis in den Anfang dieses Jahrtausends hinein schrieb ich Beiträge für die einzige deutsche Kunstzeitschrift, die sich mit der Druckgraphik beschäftigte, die in Memmingen erscheinende „Graphische Kunst“. Dabei lernte ich erstens, dass es auch in den sogenannten alten Bundesländern ein reiches druckgraphisches Schaffen gab und gibt und zweitens, dass die Künstler unserer Kurse locker mit der Qualität der dort entstehenden Kunst mithalten konnten und können.
Eine von mir sehr geschätzte, leider viel zu früh verstorbene Künstlerin hat einmal gesagt, mit am Wichtigsten ist, dass man seine eigene, unverwechselbare Bildsprache findet und der ist gut dran, der das schafft, denn es ist sehr schwer. Nicht erst jetzt kann ich sagen, dass ich in der Regel die meisten Bilder aus dem Graphik-Collegium schon auf den ersten Blick zuordnen kann. Ich erkenne also sowohl von den Künstlern, die ich noch aus dieser Anfangszeit her persönlich kenne und schätze, das ist ein Haase, das ist eine Schneider, das ist eine Sommer, das ist eine Lingertat, das ist eine Horota-Müller, das ist ein Grey, das ist ein Bartsch oder das ist ein Fiedler. Ich erkenne aber auch die, die später dazu gekommen sind, weil sie mir durch ihre Spenden für die Versteigerungen für die Kinder von Tschernobyl über die Jahre ebenfalls zu guten Bekannten geworden sind: das ist eine Albrecht, das ist eine Niedziella, das ist eine Ambrus, das ist ein Butschke, das ist eine Waldmann und natürlich gilt das auch für all die anderen, die ich jetzt nicht aufgezählt habe. Ein paar Neue allerdings sind in diesem Jahr dazu gekommen.
Und bemerkenswert ist auch, dass einige von Euch Künstlerinnen und Künstlern sich von Anfang an ihrer Bildsprache absolut sicher waren und sich treu geblieben sind, nach dem Motto „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ (Wir befinden uns ja gerade in der Lutherdekade), wie z.B. Manfred Haase oder Brigitte Lingertat, andere aber in der vergangenen Zeit für mich eine erstaunliche künstlerische Entwicklung genommen haben, wie z.B. Maja Helen Feustel oder Heidrun Sommer. Auch hier könnte man natürlich noch andere aufzählen.
Ihr merkt hoffentlich, ich habe eine unheimliche Hochachtung vor Euch und Eurem Schaffen.
Das wohl wichtigste Bildmotiv der Künstler und Künstlerinnen des Graphik-Collegiums ist die Landschaftsdarstellung. Seitdem sie schon vereinzelt in der Spätgotik, aber dann verstärkt in der Renaissance als eigenständiges Bildthema in die bildende Kunst eingeführt wurde, ist sie wohl über die Jahrhunderte zu deren wichtigstem und immer wiederkehrendem Bildmotiv geworden. Sie symbolisiert Sehnsucht, Geborgenheit, jahreszeitliche Abläufe, damit aber auch die Darstellung von Werden und Vergehen.
So ist es auch mit den Landschaftsdarstellungen der Künstler des Graphik-Collegiums, gefunden auf Reisen in die Umgebung Berlins, immer wieder an der Ostsee oder in den Urlauben in ferneren Gegenden. Da sind die Bilder in kräftiger, impulsiver Schilderung bei Roswitha Albrecht und Heidrun Sommer, die diesmal und für mich überraschend mit einer Landschaft hier ist.
Da sind die Landschaften, sensibel, nervös von Petra Schneider, im Kontrast dazu die Reservagen und Aquatinten von Stefan Friedemann, diese anthropomorphen Felsformationen, die mich in Teilen immer an die atmosphärischen Landschaften eines Hercules Seghers erinnern. Kontrastierend dazu hängt eine Landschaft von Sebastian Haßbecker, der die anthropomorphe Form wieder in ihrer Kompaktheit komprimiert.
Da sind die teils detailreichen, perspektivisch angeordneten Landschaften von Ekkehard Bartsch, Traudel Kramer, Horst Fiedler, Elsbeth Schneider und Birgit Horota, die diesmal nicht mit einem ihrer „sympathischen“ Tiere aufwartet.
Oft mit wenigen Strichen wie angedeutet aber auch in kräftigeren Reservagen sind die Landschaften von Karin Waldmann oder Waltraud Niedziella und Catrin Böhm angelegt, mit jahreszeitlichen Stimmungen bei Hilmar Grey.
Eine Solitärstellung nimmt Peter Butschke mit seinen an der naiven Kunst geschulten Formvereinfachungen ein. In seinen computergefärbten Radierungen nimmt er auch Gestaltungselemente aus dem Expressionismus oder, wie im Fall der hier ausgestellten Graphik, aus dem Jugendstil auf.
All den bisher genannten Graphikern ist gemeinsam: Es sind realistische Darstellungen, die von der fast nüchternen Schilderung bis in die romantisch-hintergründige Stimmung reichen.
Ähnliches finden wir in den Darstellungen von Stadtlandschaften, wie in den meist dunklen, den morbiden Charme des alten Berlins atmenden Straßenschluchten und Raumeinblicken des Manfred Haase, hier ist er allerdings mit einem seiner Hafenbilder; in der präzise gezeichneten Industrielandschaft von Martha Pflug, mit dieser angehauchten, fein abgestuften Farbigkeit oder dem klar gegliederten Treppenraum von Franziska Deregoski.
Im Gegensatz dazu wird hier in Maja Helen Feustels Farbradierungen der Übergang von der realistischen zu den stark abstrahierten Darstellungen am deutlichsten. Sie löst sich in ihren Bildern von der realistischen Form hin zu impulsiven konstruktiven Stadtwelten, in der partienweise, von der Grunddarstellung abgelöste Farbflächen die Abstrahierung und damit Verfremdung noch vorantreiben.
Und auch das fällt auf, viele von Euch nutzen eine klare, unverschnörkelte Zeichenweise in der Radierung, kräftige stimmungspralle Formen in der Reservage und klar, klassisch abgestufte Flächen in den Aquatinten.
An dieser Stelle fällt mir eine Anekdote ein. Herbert Tucholski, die Älteren unter Euch werden ihn noch kennen, Villa Romana-Preisträger vor dem Krieg, einer der Nestoren der Graphik, speziell des Tiefdrucks in der DDR, Initiator der Druckwerkstätten in Monbijou und der Kunsthochschule Weißensee nach dem Krieg, fragte mich einmal: Kennen sie den jungen Künstler? Der Name fällt mir gerade nicht ein. Er ist sehr gut, aber er ätzt mir zu viel. Der Name fiel ihm dann noch ein. Er meinte Manfred Butzmann. Herbert Tucholski hätte seine Freude an Euch, bevorzugte er doch auch die klare Zeichnung und die klar gegliederte Aquatinta.
Und auch das fällt mir angenehm auf. Da wo in den Landschaften Farbe eingesetzt wird, geschieht es sparsam, lediglich um eine bestimmte Stimmung zu unterstützen.
Ähnliches wie für die Landschaftsdarstellung kann man auch für die Aktdarstellungen von vielen der genannten Künstlerinnen und Künstler sagen. Sie spielen im Schaffen des Teils der Künstlerinnen und Künstler des Graphik-Collegiums eine wichtige Rolle, der insbesondere auch den Aktzeichenkurs im Studio Bildende Kunst besucht. Die Aktdarstellung ist dadurch bei vielen nicht nur Klärung der bildschöpferischen Gestaltung und Proportionszusammenhängen, der Wirkung von Licht und Schatten, sondern wird mehr: eigenständiges Motiv für die Darstellung menschlicher Schönheit, von menschlichen „Haltungen“ und „Charakteren“. Erstaunlicherweise haben wir in dieser Ausstellung nur einen Akt: von Brigitte Lingertat. Ihre Akte zeichnen immer eine kraftvolle, tonige Zeichnung aus, haben dadurch etwas Erdverbundenes, Ursprüngliches.
Das Gesagte für die Aktzeichnung gilt auch für die Porträtzeichnung und ihre Weiterführung in der druckgraphischen Umsetzung. Hier haben wir auf der einen Seite ein Porträt, radiert von Mathias Winde, das aus vielen feinen Linien besteht und auf der anderen Seite das durch abgestufte Aquatintaflächen klar gegliederte Porträt eines unbekannten Herrn als Ganzfigurporträt mit Interieur von Tatiana Burghenn-Arsenie.
Wie ein Gegenentwurf dazu wirken die stark abstrahierten, oft bis zur Gegenstandslosigkeit getriebenen Bilder von Maja Helen Feustel, Wilfried Habrich, Karin Tiefensee, Georg Bothe, Bärbel Ambrus, Karolin Hegele, Florian Wolf oder Alexandra Frenz.
Ihre Bilder fordern die Phantasie der Betrachter in aufrührerischer Weise heraus, zwingen sie in ihren eigenen Bildinterpretationen bis hin in eine individualisierte Phantasie-, Formen- und Traumwelt.
Karin Tiefensees gegenstandslose Raumbilder, die mich schon immer fasziniert haben, haben durchaus Anklänge an realistische Landschaften. Ihre, in diesem Jahr ausgestellten druckgraphisch collagierten Blätter erweitert sie mit einer floralen Akzentsetzung.
Bei ihr, wie auch bei den ruhigen bis fast suggestiven Bildräumen von Georg Bothe, beeindruckt das Farbgefühl. Die Bildräume sind bei beiden so auch Klangräume. Dabei werden Georg Bothes Einzelformen im Bild für mich erstmalig kompakter und lösen sich wie frei schwebend in den Bildraum. Karolin Hegele debütiert mit einer impulsiven gegenstandslosen Figuration, während Bärbel Ambrus, die uns für die letzte Tschernobylversteigerung noch eine stimmungsvolle Landschaft spendete, hier eine subtile feingliedrige, wissenschaftlich inspirierte Radierung ausstellt, die zwar wie eine stark abstrahierte, symbolhafte Landschaft wirkt, durch den Titel aber in das Umfeld der physikalischer Prozesse bzw. der Sonne verortet wird (Protuberanz).
Wilfried Habrich erweitert diese freien Gestaltungsweisen um die Aspekte der Sprache in ihrer Schriftform und einer zersplitterten Formenvielfalt in seinen Sprach-Form-Blättern. Florian Wolfs ins Gegenstandslose geführte zeichenhafte Bilder und die konstruktiven Strahlen-Bilder von Alexandra Frenz führen diese stark bis ins Gegenstandslose abstrahierten Bildwelten in ihrer Gestalt- und Formenvielfalt wieder zusammen und zurück auf ihren rationalen, konstruktiven Kern, von dem doch jegliches Gestalten auszugehen oder in dem dieses zu enden scheint.
Alle zusammen aber, also das gesamte Graphik-Collegium sind wie ein vielstimmiges, durchaus harmonisch musizierendes Orchester mit einem beeindruckend breiten Repertoire, auf das man andernorts neidisch ist.
Als ich im vorigen Jahr eine Ausstellung im Kulturforum Hellersdorf mit kuratierte, sagte der Veranstalter, der mit dieser Ausstellung die Ausstellungstätigkeit dort neu beginnen und auf ein höheres Niveau heben wollte, voller Neid: Schade, dass ich so etwas, wie das Graphik-Collegium nicht hier habe.
Ich danke Euch für diese wunderbare Ausstellung, wünsche der Ausstellung viele Besucher und allen Künstlerinnen und Künstlern des Graphik Collegiums weiterhin frohes Schaffen und möchte die Gelegenheit nutzen mich an dieser Stelle im Auftrag des Aktionskreises Kinder von Tschernobyl noch einmal bei allen Spendern aus diesem Collegium für die Graphikspenden zu danken, die Ihr uns über viele Jahre habt zukommen lassen.
Volkhard Böhm, 15.01.2015
Um:Druck ist die Zeitschrift für Druckhttps://www.umdruck.at/graphik und visuelle Kultur.
UM:DRUCK vom 24. Oktober 2013: Graphische Spaziergänge in Berlin
von Volkhard Böhm
Biographie
1951 in Unteralba/thüringische Rhön geboren
Verstorben 2021 in Berlin
1971-75 Studium Kunstwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, Abschluss Diplom
1975-80 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Galerie Berlin des Staatlichen Kunsthandels der DDR
1977-90 Mitglied des VBK/DDR
1977-1979 Mitarbeit an der Nachauflage des Lexikons der Kunst beim Seemann-Verlag Leipzig
1980-2011 Galerieleiter bzw. -mitarbeiter in kommunalen Galerien in Berlin Lichtenberg (Galerie Sophienstraße, Studio Bildende Kunst, Galerie Carlshorst, Galerie im Ratskeller)
Mitglied im Verein Berliner Graphikfreunde INVENTOR e.V.
Mitglied des Aktionskreises Evangelischer Kirchengemeinden „Kinder von Tschernobyl“ https://www.aktionskreis-kinder-von-tschernobyl.de/versteigerungen/
Mitglied des Graphik-Collegiums Berlin e.V.
Konzeption und Mitarbeit an der Konzeption von Ausstellungen und Kunstprojekten
Texte in Kunstzeitschriften (Bildende Kunst, Graphische Kunst, UM:DRUCK), für Kataloge, Ausstellungseröffnungen u.a.